Das papierene "Herz" der British Library: Die frühere Privatbibliothek des Königs George III -
63000 Bücher hinter Panzerglas. Foto: almIn einem fernen Land vor einer langen Zeit lebte ein Junge, der nachts von riesigen Altpapier- und Schrotthaufen träumte. Alle paar Wochen machte sich der Junge auf die Suche nach selbigen, wobei er die 28 Quadratmeter große Wohnung seiner Eltern regelmäßig in eine Mühlhalde verwandelte. Sie hatten nichts dagegen. Der Junge brauchte Schrott, weil ein paar verkalkte Greise in ihrer „Festung der Einsamkeit“ (denn einsam und weit weg waren sie vom Volk) ein utopisches Gesellschaftssystem aufbauen wollten, das die menschliche Natur ignorierte. Der Junge brauchte Schrott, um die „aggressiven Imperialisten“ jenseits des großen Ozeans schlagen zu können. So hatte man ihm das erklärt. Dagegen sammelte er Papier, um sich ein kostbares Gut leisten zu können: Bücher.
Je mehr zerknüllte Zeitungen der Junge bei einem nach Alkohol riechenden, über gelaunten Mann in einem Schuppen ablieferte, desto besser wurden seine Chancen, nach einer langen Wartezeit in einem speziellen Geschäft ein Roman von Dumas, Verne oder Stevenson kaufen zu können. Ich war dieser Junge. In meiner sowjetischen Heimat waren Bücher Mangelware. Sie waren die schönsten Schätze, die besten Geschenke zu Geburtstagen. Ich liebe seit meiner Kindheit Bücher. Und ich mag sehr gerne Bibliotheken.
Karte oder Kunstwerk? Beides! So sahen die Menschen die Welt um 1550. Foto: BLIn die Staatliche Russische Bibliothek in Moskau kamen nur Auserwählte hinein. Dagegen steht die britische Nationalbibliothek in der Nähe vom Eisenbahnknoten King’s Cross/St. Pancras im Norden Londons für alle Besucher offen. Und sie ist immer einen Besuch wert, selbst wenn man keinen Leserausweis hat. Gehen Sie in den ersten Stock in die spärlich beleuchtete Sir John Ritblat Gallery mit Dutzenden Schaukästen aus Glas und Sie kommen nicht aus dem Staunen hinaus. Das Bordbuch von Nelsons Schiff HMS Victory aus der Trafalgar-Schlacht liegt hier. Die „Magna Carta“ – das revolutionäre Dokument von 1215, dem wir die moderne Rechtsstaatlichkeit verdanken. Und das Original-Manuskript von Paul McCartneys „Yesterday“. Ebenso Mozarts Notenblätter, Da Vincis Zeichnungen, Janes Austens und Virginia Woolfs Notizbücher und das auf der letzten Seite aufgeschlagene Tagebuch des gescheiterten Südpolforschers Robert Scott mit den Worten „Um Gottes Willen, kümmert euch um unsere Leute“.
Karte der Mittelmeer-Region (Ausschnitt), ca. 1570. Foto: BLDie British Library ist eine der größten Bibliotheken der Welt mit 14 Millionen Büchern, 8 Millionen Briefmarken, 4,5 Millionen Karten und 3 Millionen Tonaufnahmen aus rund 3 000 Jahren Geschichte und in allen bekannten Sprachen. Seit ich Mitte Februar eine “Hinter den Kulissen”-Führung gemacht habe, weiß ich, wie sie funktioniert. Obwohl vergleichsweise jung - die BL wurde erst 1972 gegründet – hat sie in kürzester Zeit einen gewaltigen Wissensschatz akkumuliert. Alles, was im Vereinigten Königreich veröffentlicht wird, wird hierher geschickt. Das riesige Gebäude aus zehn Millionen roten Ziegelsteinen in Form eines Containerschiffs beherbergt insgesamt 652 Kilometer Regale voller Bücher und Dokumente: Bei einem Tempo von fünf Büchern am Tag bräuchten Sie 80 000 Jahre, um das alles zu sehen. Jeden Tag kommen im Schnitt 8 000 neue Publikationen dazu. Das sind drei Millionen Bücher etc. im Jahr, für die die Briten zwölf Kilometer neue Regale aufstellen müssen. Ein Großteil des BL-Archivs lagert 25 Meter unter der Erde in einem Raum von der Größe eines Fußballfeldes. Einen Lift gibt es dort nicht. Die 60 Angestellten, die unter Tage arbeiten, müssen fit genug sein, um bei Brandalarm die Treppen heraufrennen zu können.
BL mit dem Jahresbudget von 100 Millionen Pfund ist eine Forschungsbibliothek, das heißt, man kann hier nichts ausleihen. Dafür stehen den derzeit 140 000 registrierten Bücherratten elf Lesesäle zur Verfügung. Egal, ob man aus Kiribati kommt oder Kasachstan – jeder kann sich für ein Jahr kostenlos anmelden, und die Zulassungsprozedur dauert nicht mehr als 15 Minuten. Man kriegt als neuer Leser vielleicht nicht die 3 000 Jahre alten chinesischen Orakelknochen (ältestes Archivstück) ausgehändigt, doch die Mitarbeiter der Bibliothek haben mir versichert, dass sie auf Wunsch die Karte des afghanischen Khyber-Passes aus dem Jahr 1832 vor Ihnen ausrollen würden. Oder eben etwas anderes. Binnen 70 Minuten soll das bestellte Stück auf dem Tisch liegen. Damit es funktioniert, schickt das halbautomatische System täglich 3 000 Kisten voller Bücher und Dokumente auf 33 000 verschiedenen Routen durch das 14 Stockwerke hohe Haus. Jeden Monat bearbeiten die Mitarbeiter der BL durchschnittlich 220 000 Anfragen.
Der Klencke-Atlas, 1660. Es ist das größte Buch der Welt. Foto: BLWenn Sie Zeit haben, steigen sie in den dritten Stock, wo derzeit das größte Buch der Welt steht. Der „Klencke-Atlas“ ist 1,90 Meter hoch und 1,75 Meter breit, und er dürfte wohl einige Hundert Kilogramm wiegen. Das Elefantenbuch - ein Geschenk der holländischen Händler an König Charles II - enthielt das gesammelte Wissen der Welt im Jahr 1660. Heute könnte man wahrscheinlich seinen Inhalt auf einem kleinen USB-Stick unterbringen. Ob ich mich darüber freuen soll, weiß ich nicht.
Vom 30. April bis 19. September 2010 zeigt die British Library eine sehr sehenswerte Ausstellung „Magnificent Maps: Power, Propaganda and Art“