Julie Miller ist ein “games maker”. Fotos: alm„Ich habe sie alle gesehen“, sagte mit einem glücklichen, müden Lächeln Julie Miller. „Michael Phelps, Rebecca Adlington, die Turmspringer…“ Ihre Aufzählung nahm kein Ende. Ich habe Julie abends in einem Zeltlager für Olympia-Fans und -helfer am Rand von London getroffen, wo sich die 49-jährige Intensivkrankenschwester aus Hastings gerade von den Strapazen ihrer letzten Schicht erholt hat. Seit einer Woche sitzt sie täglich am Schwimmbecken des Aquatic Centre im Olympischen Park und beobachtet die Stars, wobei Julie als auch ein wachsames Auge auf das Publikum haben muss. Bislang hat sie keinen kollabierten Fan im Freudentaumel wiederbeleben müssen.
Als eine der 70 000 „games makers“ musste Julie für ihren unentgeltlichen Olympia-Einsatz ihren Jahresurlaub nehmen, und sie bekommt von den Veranstaltern nicht einmal Transportkosten und Unterkunft bezahlt. Trotzdem ist sie glücklich, eine „einmalige Chance“ genutzt zu haben. „Die Spiele sind ein Erfolg, und ich hoffe, dass die ganze Welt sie so genießt wie wir“, schwärmt die Helferin. „Ich fühle mich stolz, eine Britin zu sein“. Sätze wie diese höre ich oft in London.
Olympisches “Public Viewing” im Hyde Park. Foto: Cordelia MakartsevDie sonst so zurückhaltenden Briten stellen ihren Patriotismus zur Schau. Nach anfänglicher Skepsis lautet die allgemeine Olympia-Bilanz zur Halbzeit: „wonderful“. Natürlich gibt es auch Probleme. Jedoch ist die Erleichterung groß, dass keine der vorhergesagten Katastrophen eingetreten ist. Der Verkehrskollaps blieb aus. Nach dem Skandal um das Versagen der Firma G4S laufen die Sicherheitschecks in den Sportstätten dank Tausender mobilisierter Soldaten wie am Schnürchen. Der verregnete Sommer hat sich stark gebessert. Es gibt noch zwei weitere wichtige Gründe für die Zufriedenheit der Briten: der selbstlose Einsatz Tausender „volunteers“ wie Julie Miller und die Medaillenflut des „Team GB“, das gestern auf Platz Drei gestiegen war.
Jetzt kommt die entscheidende Prüfung für das betagte Transportsystem der Hauptstadt. Die „Tube“ war in der ersten Olympiawoche mit einem Plus von zehn Prozent nur mäßig überlastet, allerdings muss die teils viktorianische U-Bahn am leichtathletischen „Superwochenende“ den Ansturm von 200 000 Extra-Reisenden bewältigen. Heute gab es Warteschlagen wegen einer defekten Signalanlage. Die Experten sind dennoch zufrieden mit dem Verkehrsfluss bei den Spielen. Sie führen die geringe Zahl der Störungen auf die penetrante Anti-Stau-Propaganda der Stadtverwaltung zurück, die viele Londoner vom Reisen abgeschreckt hat.
Über das Ziel hinausgeschossen: Leere U-Bahn in LondonDabei ist Bürgermeister Boris Johnson offensichtlich über das Ziel hinausgeschossen. Nach ein paar Tagen stellten nämlich die Restaurantbetreiber und Shopbesitzer im West End, dass ihnen die Touristen fehlten. Nach neuen Statistiken fiel seit dem Olympiastart die Zahl der Restaurantbuchungen um 40 Prozent, die Taxifahrer klagen über Umsatzeinbußen von 20 Prozent. Die Regierung tröstet die frustrierten Unternehmer damit, dass London durch die Spiele bis 2017 touristische Mehreinnahmen von 950 Millionen Pfund erhalten werde.
Ein weiteres Problem bleiben die leeren Plätze in den Stadien. Das Organisationskomitee Locog stellte fünf Prozent der 8,8 Millionen Olympiatickets den akkreditierten Medien und dem IOC zur Verfügung. Kurz nach der Eröffnung wurde klar, dass sich manche Funktionäre lieber in den luxuriösen Hotels aufhalten, statt die Wettkämpfe live zu verfolgen. Nun greift Locog zu unkonventionellen Lösungen. So werden manche Lücken mit als Zuschauer verkleideten „games makers“ gefüllt.
Natürlich unterstützt auch der alte Nelson am Trafalgar Square das “Team GB”All diese Mängel haben jedoch kaum den Enthusiasmus der Gastgeber getrübt. Heute herrschte im vollbesetzten Olympiastadion eine Bombenstimmung, als der Leichtathletik-Star Jessica Ennis bei ihrer Siebenkampf-Premiere über 100 Meter Hürden mit der britischen Bestzeit von 12.54 Sekunden ins Ziel flog. Zuvor hatte ein 600-köpfiger Arbeitertrupp die Arena für die Wettkämpfe umgebaut. Nach der weltweit bejubelten Eröffnungsfeier mussten die Organisatoren die 15 000 Quadratmeter große Bühne abmontieren, die 16 Tonnen schwere Olympiafackel aus 204 brennenden „Blüten“ verschieben und 7 000 Quadratmeter Rasen verlegen. Die Briten erwarten jetzt, dass die Show ihrer Spitzensportler im verwandelten Stadion dem fulminanten Spektakel von Regisseur Danny Boyle in nichts nachstehen wird. Ich auch.