Alexei Makartsev: Im Haus der fünftausend Zimmer

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Extra: Hoch in der "Scherbe"

Geliebter “Splitter” – Londoner „Shard“ eröffnet für Besucher

LONDON. Die Londoner City lebt seit Monaten nach einer neuen, riesigen Sonnenuhr. Um sie in Aktion zu sehen, muss man 25 Pfund bezahlen, das mulmige Gefühl im Bauch ignorieren und mit pfeilschnellen Aufzügen zu einer Aussichtsplattform in 244 Meter Höhe fahren, wo sich der Lärm der Millionenmetropole zu einem sanften Rauschen abschwächt. Hier, in der zackenförmigen Spitze des Wolkenkratzers The Shard sieht man bei gutem Wetter, wie ein langer, spitzer Schatten allmählich über die Dächer der Wohnhäuser, Hotels, Banken und Kirchen im quirligen Finanzviertel an der Themse wandert. Tausende Menschen haben bereits Tickets gekauft, um nach der Eröffnung der schwindelerregenden Touristenattraktion am 1. Februar aus der Vogelperspektive diesen meditativen Fluss der Zeit erleben zu können.

Die Zeit war gnädig zum höchsten Gebäude Westeuropas (309,6 Meter), das entsprechend seinem Namen wie ein scharfer Glassplitter den belebten Verkehrsknoten London Bridge am Südufer der Themse durchbohrt. Vieles sprach dagegen, dass der „Shard“ jemals gebaut werden würde, unter anderem der Widerstand der Denkmalschützer, die Proteste der Anwohner und nicht zuletzt die Finanzkrise. Doch nach und nach hatten sich die Wogen geglättet, und zum Glück für die Baufirma Sellar Property sprang die Zentralbank des Ölstaats Katar als Geldgeber ein, wodurch 2009 das Scheitern des 550 Millionen Euro teuren Projekts abgewendet wurde. Heute sind die Londoner stolz auf den gläsernen Turm, den sie ihre „Antwort auf das Empire State Building“ nennen. Die Tourismusexperten glauben, dass der „Shard“ mit mehr als einer Million erwarteter Besucher pro Jahr das beliebte Riesenrad London Eye (135 Meter) in den Schatten stellen wird.

Die Entstehungsgeschichte der „Scherbe“ ist legendär. Sie erwachte zum Leben 2000 auf einer Serviette in einem Berliner Restaurant, als ihr Schöpfer Renzo Piano dem Bauunternehmer Irvine Sellar in wenigen Strichen seine Vision einer „vertikalen Stadt“ zeichnete. Der italienische Stararchitekt sah nach eigenen Worten einen „gigantischen Segel“ aus dem Fluss herausragen, dessen glänzende Oberfläche rund um die Uhr den „Herzschlag“ der Metropole reflektieren sollte. Darum konzipierte Piano das Hochhaus aus 11 000 Glasplatten, die ihre Farbe mit dem Wetter und der Tageszeit verändern würden: „Nach einem Regenschauer leuchtet der ,Shard‘ blau, abends glüht er in warmen Rot-Tönen“. Die „gebrochenen“ Spitzen der Pyramide berühren sich oben nicht, damit sie „atmen“ kann. Wegen der geneigten Fassade ist der Turm ein Albtraum für die Fensterreiniger, die sich in luftiger Höhe von den hängenden Gondeln extra abseilen müssen.

Der Bau des Wolkenkratzers mit 44 Fahrstühlen und 87 Stockwerken war eine logistische Herausforderung für Sellar Property, deren 1 200 Arbeiter alle 36 Stunden genügend Beton produzierten, um den Big Ben komplett ausfüllen zu können. Zur Vollendung des „Shard“ musste der höchste Baukran Europas (317 Meter) an eine Seite des Gebäudes „geschnallt“ werden. Noch vor seiner offiziellen Einweihung im Juli 2012 sorgte der Glasturm für Schlagzeilen, als einige Mitglieder der Londoner Stadtguerilla die Wachen überlisteten und nach oben schlichen, um die nächtliche Metropole zu fotografieren. Kurz davor wurde im „Shard“ ein anderer ungebetener Gast festgenommen. Ein Fuchs hatte wochenlang über den Wolken gelebt und sich von den Essensresten der Bauarbeiter ernährt. Das auf den Namen Romeo getaufte Tier wurde vom Hochhaus verbannt. Heute kann man dort in einem Souvenirladen Romeo als eine Stoffpuppe kaufen.

Die Bezwinger der „Scherbe“ müssen über sich strikte Sicherheitskontrollen ergehen lassen, die den Checks im Flughafen Heathrow in nichts nachstehen. Größere Taschen, Lebensmittel und Getränke in Plastikflaschen sind tabu. Jeder Besucher wird fotografiert, während er den Metalldetektor im Erdgeschoss passiert. Um die Besucherplattform zu erreichen, ist ein Umsteigen im 33. Stock notwendig, wo die Gäste des Wolkenkratzers eine auf den Boden gezeichnete „Rätselkarte“ Londons betreten. Während der rasanten Fahrt bis zur Spitze mit einer Geschwindigkeit von sechs Metern pro Sekunde zeigen die Bildschirme in den Fahrstühlen einen simulierten Aufstieg, bei dem man die Dächer von weltberühmten Gebäuden wie der St.-Paul’s-Kathedrale oder des British Museum „durchbricht“.

Pianos „vertikale Stadt“, in der einmal 12 000 Menschen arbeiten sollen, besteht aus Geschäften, Büros (2. bis 28. Stock), Restaurants (31. bis 33. Stock) und dem Fünfsternehotel „Shangri-La“ mit 200 Luxuszimmern und einem Infinity-Pool (34. bis 52. Stock). Darüber befinden sich die zehn höchstgelegenen Appartements des Königreichs, jedes von denen 60 Millionen Euro kosten soll. Die oberen Etagen gehören den Touristen. Beim Rundgang durch die von Licht durchflutete 360-Grad-Galerie im 68. Stock blickt man an klaren Tagen bis zu 60 Kilometer weit über die Stadtgrenzen hinweg. Es ist keine Halluzination, wenn man dabei zarte Engelsstimmen hört. Um die Panorama-Wirkung zu verstärken, ließen die Betreiber der Attraktion extra einen ätherischen Soundtrack komponieren, der vom Londoner Symphonie-Orchester in Begleitung eines Kammerchors aufgeführt wird.

Der Gipfel des „Shard“-Abenteuers ist der Aufstieg zur halboffenen Plattform im 72. Stock. Die Besucher fühlen sich hier frei und schwerelos wie Vögel im Himmel. Der Wind pfeift ein fröhliches Lied und spielt mit den Haaren. Unten sind schwache Polizeisirenen zu hören. Kleine rote Doppeldeckerbusse rollen über die London Bridge, streichholzgroße Ausflugsboote treiben auf der Themse und weiße Spielzeug-Züge kriechen auf den Gleisen zur Station Waterloo. In der „Scherbe“ darf jeder von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang bleiben, denn die Tickets sind nicht zeitlich begrenzt. Wer einmal auf Toilette muss, erlebt eine weitere Überraschung: Auf dem spektakulärsten Klo Westeuropas verrichtet man sein Geschäft direkt neben einer Glaswand, hinter der ein tiefer Abgrund beginnt.

Für Besucher: Die Galerie des „Shard“ wird täglich von 9 bis 22 Uhr geöffnet sein. Die Tickets kosten knapp 24 Pfund für Erwachsene und 19 Pfund für Kinder. Man muss sich bei der Buchung für einen bestimmten Tag entscheiden. Möglicherweise werden die Touristen bei sehr schlechtem Wetter den Wolkenkratzer ein zweites Mal kostenlos besuchen dürfen. Buchungen und weitere Informationen gibt es auf dieser Seite.

Fotos: Alexei Makartsev

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