Genosse Brar legt los... es folgen 88 Minuten Kriegsanalyse. Fotos: alm„All you need is love“, erklärten 1967 die Beatles. 43 Jahre später glaubt ein Häufchen Exzentriker, eine bessere Lösung für unsere unperfekte Welt gefunden zu haben. Sie sagen: „Alles, was man braucht, ist die Diktatur des Proletariats“. Zugegeben, diese Losung lässt sich nicht so schön singen. Doch die Leute, mit denen ich vor kurzem den 93. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in London gefeiert habe, waren ohnehin nicht sehr musikalisch.
Vor langer Zeit im russischen Dorf Prawda (die Wahrheit) geboren, bin ich ein Ex-Spezialist in der „Diktatur des Proletariats“. Darum bekam ich ein nostalgisches Gefühl, als ich hörte, dass die „Kommunistische Partei Großbritanniens (Marxistisch-Leninistisch)“ – nennen wir sie einfach KPGBML – in einer „Saklatvala-Halle“ den Geburtstag der Revolution von 1917 feiern wolle. Eine sozialistische Party: Das hatte ich zuletzt in den 80ern erlebt. Nichts wie hin. Doch der Abend beginnt mit einer Enttäuschung: Weil ich zu spät bin, verpasse ich Punkt Eins der Tagesordnung: „Kurzfilm – Jossif Stalin hält eine Rede bei der Militärparade zum 24. Jahrestag der Revolution“.
„Willkommen, Genosse“: Das sagt der junge Mann am Eingang allen Neuankömmlingen. Die „Saklatvala-Halle“ ist ein kleiner Zimmer-Schlauch. An den unverputzten Wänden hängen Poster: „Haltet hoch die Fahne des Kommunismus“, „Sieg für den Irakischen Widerstand“ und „Brecht alle Verbindungen mit Labour“. Sie ist ein komischer Verein, die 2004 gegründete KPGBML: Die Partei scheint sich hauptsächlich aus Sikhs, alten Omas und übergewichtigen Männern mit Halbglatzen zu rekrutieren. Aber wir haben auch zwei besondere Gäste hier, die Vize-Vorsitzende Ella Rule emphatisch begrüßt: „Applaus für den Vertreter der nordkoreanischen Botschaft Chang Song Chong und den Genossen von der chinesischen Botschaft, Wang Ling Chung“. Sorry, für die Richtigkeit der Namen kann ich nicht bürgen.
Ella Rule ist eine kleine Frau mit scharfen Gesichtszügen, die der „böse Imperialismus“ als Gegnerin nicht unterschätzen sollte. „Der Feind greift an. Die Schlacht tobt im Herzen des Systems. Wir überleben nur, wenn wir mit dem Erbe der Oktoberrevolution zum Gegenangriff übergehen“. Ellas Appell wirkt umso dramatischer, als draußen plötzlich Explosionen krachen. Feuerwerke. Die Briten feiern die Guy Fawkes Night nach. „Die Werktätigen sind verloren, wenn nicht die allmächtige Kraft des Marxismus auf sie herabkommt”, predigt Ella. Ich spähe zu meinen Nachbarn herüber. Der Mann in Wollmütze ist in eine Übersetzung der Sowjethymne vertieft. Der Genosse rechts liest einen Artikel mit der Überschrift: „Widerlegung der bourgeoisen Versuche der Falsifizierung der glorreichen Errungenschaften des Kommunismus“. Kinder krabbeln unter den Stühlen. Omas futtern mitgebrachte Nuss-Rosinen-Mischungen aus Tütchen. Der Collie will spielen. Der chinesische Genosse sieht müde aus. Es erhebt sich nun der Parteichef Harpal Brar. „Ich werde lange sprechen“, warnt ernst der bärtige Mann. Genosse Brar scheint sich ganz nach seinem Idol Jossif Stalin zu richten.
Die Saklatvala-Halle ist die Kommandozentrale der KPGBMLVon wegen „Party“. Ich sehe in einer Ecke eine Kiste Wodka stehen, außerdem noch Rotwein, roten Traubensaft und rote Pralinen. Doch uns erwartet eine quälende 88-minütige Detailanalyse der sowjetischen Kriegsstrategie 1941 bis 1945. „Es gab keinen Pakt von Hitler und Stalin“, erklärt Brar. „Churchill war ein Rassist. Er kämpfte gegen den Faschismus, nur um die britischen Kolonien zu beschützen“. Genosse Chang Song Chong ist eingeschlafen, darum hört er nicht, wie sich der Parteichef bei der „siegreichen Roten Armee“ bedankt. Bitteschön. Ich schaue mich um: Ich bin todsicher der einzige (ehemalige) Vertreter der Roten Armee hier. „Keiner kann uns helfen. Das Proletariat wird die Ideen der Revolution nutzen, um sich zu befreien“, sagt der Redner. Hoffentlich hört der MI5 gerade nicht zu.
Und jetzt schleicht sich Genosse Wang Ling Chung zum Ausgang hinaus. Ich schaue ihm neidisch hinterher. Nach Harpal Brar singt ein Inder die „Hymne von der Roten Fahne“. Sie hört sich wie ein Liebeslied an. Ella erklärt uns wieder, wie wir gegen Camerons Regierung kämpfen müssen. „Was das kleine Nordkorea schafft, das können wir auch“, ruft die KPGBML-Anführerin. Genosse Chang Song Chong lächelt dankbar, zum Glück ist er rechtzeitig aufgewacht. Nach dem gemeinsamen Singen der „Internationale“ fliehe ich aus der „Saklatvala-Halle“, ehe Harpal Brar womöglich wieder zur Schlacht von Stalingrad 1943 zurückkehrt. Die Party kann mir gestohlen bleiben.
