Wildes Zelten im Dartmoor – so schön, bis die Nacht kommt. Fotos: almEine der unheimlichsten Gegenden Europas liegt sechs Autofahrstunden von London entfernt. Das Buch „Haunted Britain“ beschreibt sie als eine „furchterregende Einöde, umgeben von der trostlosen Aura der Einsamkeit“. „Wenn der Wind heult und der Nebel das Moor in seine übelriechende Umarmung einhüllt, erwachen hier die Alpträume“, erzählt der Autor Richard Jones. Als ich diese Zeilen las, fragte ich mich, wie es wohl wäre, alleine eine Nacht im Nationalpark Dartmoor zu verbringen.
An einem Oktoberabend stehe ich am Rand des Moors fünf Kilometer westlich von Buckfastleigh. In dem Städtchen liegt seit 1677 ein gewisser Richard Cabell begraben. Doch dazu später. Die Grundbedingung des Grusel-Experiments ist erfüllt: Weit und breit keine Häuser, keine Menschen und keine Autos zu sehen. Bepackt mit einem kleinen Zelt, Fernglas, Kamera und anderer Ausrüstung, geht es tief in den Park. Noch vor Sonnenuntergang steht mein temporäres Domizil auf einem „Tor“– so nennt man hier die mit Gras und Heide bewachsenen Hügel, aus denen Granitbrocken herausragen.
Dartmoor in Devon ist 950 Quadratkilometer groß und wild genug, um hier Polarexpeditionen zu simulieren. Im Winter 2009 trainierte im Nationalpark der Abenteurer Pen Hadow, der später die Eisdicke der Arktis vermaß. Sehr beliebt ist diese Gegend auch bei Archäologen, die etwa 5 000 Hügelgräber aus der Bronzezeit erforschen können. Eine andere Besonderheit des Moors, in dem es oft regnen soll, ist sein rechtlicher Status. Ein Gesetz von 1949 garantiert das Recht der „wilden Camper“, in Dartmoor zu übernachten.
22.30 Uhr. Der Wind reißt an den dünnen Zeltwänden, die Gräser und Büsche rascheln. Im Schein der Taschenlampe lese ich die Geschichte von Richard Cabell. „Er war ein Mann von solch einem üblen Ruf, dass nach seinem Tod ein Rudel Geisterhunde aus den Tiefen des Moors erschien, um seine Seele in die Hölle zu bringen“, steht im Buch. „Diese Hunde stehen nachts um sein Grab herum und rufen den Geist, der sie auf eine Jagd durch das Moor begleitet“. 1901 hörte Arthur Conan Doyle auf einer Reise nach Dartmoor die Legende von Cabell. So wurde die Idee zum Sherlock-Holmes-Roman „Der Hund von Baskerville“ geboren.
Alleine im MoorKurz nach Mitternacht. Ich wache von einem seltsamen Donnergrollen auf. Raus aus dem Zelt. Der Himmel flackert, aber es ist kein Gewitter. „Bumm“, dann ein entferntes Geknatter der Maschinengewehre. Am Horizont scheint eine Schlacht zu toben. Sind wir im Krieg? Dann erinnere ich mich daran, dass in Dartmoor das britische Militär manchmal Schießübungen veranstaltet, und gehe schlafen.
2.15 Uhr. Knacken, heftiges Stampfen und… leises Wiehern? Ich denke an die Legende vom Jäger Childe, der hier in einem Schneesturm verloren ging. Wie es heißt, tötete Childe sein Pferd, um sich im Kadaver zu wärmen, erfror aber dennoch. Wieder hinaus. Im Taschenlampenlicht sehe ich 20 Meter weiter weg eine Gestalt. Es ist kein Geist, sondern ein ganz reales Pony. Das wilde Tier starrt mich an, dann galoppiert es weg. Ich liege im Zelt und lausche der vielstimmigen Nacht. Das Rauschen des Windes wiegt mich in den Schlaf.
4 Uhr. Ich glaube, leichte Schritte zu hören. Ist das vielleicht Kitty Jay? Sie war eine arme Arbeiterin, die sich im 18. Jahrhundert in Dartmoor erhängt hat, nachdem ihr Geliebter sie verließ. Auf Kittys Grab erscheinen angeblich frische Blumen, und es wird erzählt, ein unruhiger Frauengeist gehe um. Ich stecke meinen Kopf heraus und entdecke zwei Wühlmäuse. Über meinem Kopf ist ein phantastischer Sternenhimmel mit der leuchtenden Milchstraße.
Dartmoor: eine wilde, geheimnisvolle GegendAm Morgen sehe ich, dass die Zeltplane geöffnet ist. Gab es nachts Besucher? Oder habe ich vergessen, den Reisverschluss zu schließen? Ich weiß es nicht mehr. Um das Zelt herum steht eine Schafherde. Das nasse Gras dampft in den Sonnenstrahlen. Bei Tageslicht sieht das Moor fast freundlich aus. Die ätherischen Höllenhunde kommen wohl heute nicht mehr, also breche ich nach Hause auf.