Carl alias Cliff auf der 7. Geburtstagsparty des “Felling Gloomy”-Clubs. Fotos: almJeder weiß, dass die Sonne irgendwann explodieren und die Erde verbrennen wird. Wir alle geben am Ende unseres Lebens die Träume und Hoffnungen auf und zerfallen zu Staub. Alles wird teurer, in Afrika gibt es weiter Folter und Sklaverei. Man kriegt nur noch Geburtstagsglückwünsche, wenn sich die Freunde daran per Facebook erinnern. Es gibt viele Gründe, mit dem Schicksal zu hadern. Aber Trübsinn kann auch lustig und befreiend sein. Nirgendwo kann man so gut gemeinsam mit den anderen Enttäuschten und Bekümmerten in Schwermut schwelgen, wie im Londoner „Gloomy“-Club.
Zu Beginn unseres Interviews erzählt Carl darüber, wie er früher im Unterricht aus dem Klassenzimmerfenster eine weiße Rauchsäule beobachtet hat. „Das große Krematorium neben meiner Schule, es qualmte ganz schön“, sagt der freundliche Mann mit grauen Haarsträhnen über einem sanften Gesicht, während er sich im Pub Cola statt Bier bestellt. Das Getränk ist für Carls Alter Ego. Der Andere heißt Cliff, er ist ein von Zweifeln erfüllter, schüchterner und mutloser Verlierertyp, der zu Hause bei Mama lebt, eine lächerliche hellblaue Strickmütze trägt und gemeinsam mit seinem Pessimisten-Kumpel Len eine Clubnacht veranstaltet, um Frauen kennenlernen zu können. Obwohl Carl als Cliff ganz schön bedröppelt gucken kann, ist der 37-jährige Brite eigentlich ein heiterer und erfolgreicher Mensch mit vielen Freunden und einem guten Job. Gemeinsam mit seinem Partner Mike Toller (Len) hat Carl Hill mit dem Konzept der „bedrückten Partys“ vor sieben Jahren das Nachtleben in seiner Heimatstadt revolutioniert. Jetzt bringt er auch den Deutschen und Amerikanern bei, wie süß Melancholie schmecken kann.
Der gefeuerte Ex-Direktor eines Nachtclubs hatte diesen Einfall, als er einmal einsam und lustlos im Bett lag und die Smiths hörte. „Die haben einen Song mit den Worten: ,Wenn ein Doppeldecker uns überfährt, ist es eine himmlische Art, an deiner Seite zu sterben‘. Ich musste lachen. Es war ein trauriges Lied, aber es munterte mich auf“. So wurde eine geniale Idee geboren. „In der Londoner Clubszene dreht sich alles ums Geld“, erklärt Carl. „Es geht darum, wer cooler, sexier und lustiger ist. Wir aber wollen das Gegenteil: schöne, ehrliche und stilvolle Musiknächte mit guter Musik, die Freunde der gepflegten Schwermut zusammenbringen“.
Carl Hill
Das gibt es sonst nirgendwo in Großbritannien: Käsebrote und Tee statt Cocktails und Fingerfood – und dazu Musik zum Heulen. Es gibt nur eine Regel im „Feeling Gloomy“-Club: Die Lieder mögen beschwingt klingen, doch sie müssen von Schmerz, Tod, Versagen und Trennung handeln. Tränen sind erlaubt, aber die 200 bis 300 Besucher dürfen auch von Herzen lachen, etwa wenn der DJ sich als Skelett verkleidet oder wenn der Chef-Gloomy Carl als Cliff die Luftgitarre in seiner uncoolen Band „The Miserablists“ (etwa: Die Elenden) spielt. Wenn jemand Geburtstag hat, singt der ganze Club um Mitternacht: „Unhappy Birthday to You“.
Die „bedrückten Partys“ sind ein Renner an der Themse. „Nie zuvor waren gebrochene Herzen so sehr in Mode“, schwärmt ein Kritiker. Mitten in einer Rezession, in der die Briten ohnehin wenig zu lachen haben, bejubeln die Zeitungen die „miserablen Freudenfeste“ in den „Oasen der bittersüßen Vernunft“, die die Inselbewohner aufheitern. Auf der Welle des Erfolgs hat Carl zwei Schwesternclubs in Berlin und New York gegründet, die nach seinen Worten sehr erfolgreich sind. Noch mehr Anhänger im Ausland hat das von ihm erfundene „speed hating“ – eine humorvolle Abwandlung des Single-Spiels „speed dating“, die das Flirten überflüssig macht.
„Ich hatte diese Idee nach dem Besuch eines miserablen Abends mit zu lauter Musik und gequält aussehenden, nervösen Menschen. Was wir veranstalten, ist eine Rebellion gegen solche Kennenlern-Treffen“, sagt Carl. Bei der regelmäßigen Clubnacht unter dem Motto „Nieder mit dem Dating“ verpassen die Gloomys ihren Gästen Abzeichen mit altmodischen englischen Namen und lassen die Pärchen jeweils einige Minuten lang über Politik, Musik, ihre Jobs oder Berühmtheiten von Herzen schimpfen oder Quatsch erzählen. Dann wird gewechselt. „So hat man Spaß und kommt leichter an interessante Leute heran. Und das ,speed hating‘ ist nicht so verletzend wie die übliche Single-Schau“, sagt Carl, der seine Freundin auf dem „traditionellen Weg“ kennengelernt hat.
