In der Londoner U-Bahn bleibt nichts mehr privat. Foto: almEs ist ein Abenteuer, mit der ältesten U-Bahn der Welt (seit 1863) zu fahren. Nicht nur weil es im 402 Kilometer langen Netz der Londoner „Tube“ mit 287 Stationen abends spuken soll. Wer keine Angst vor Terroristen mit Rucksackbomben, dem Feierabendgedränge in den Zügen, den ständig ausfallenden Signalanlagen und der Backofenhitze in den unbelüfteten Tunneln hat, der muss sich jetzt vor Hobby-Spionen unter Tage fürchten. Jeder hat es schon einmal erlebt: Ein Mann oder eine Frau hält in der U-Bahn die Kleinbildkamera oder ein Handy hoch: klick… Es wirkt so harmlos, bis man entdeckt, dass der Schnappschuss auf ein Online-Portal gestellt wurde, dessen Besucher amüsiert deinen Gesichtsausdruck, die schlecht sitzende Hose oder deine Einkäufe kommentieren.
Die Webseite Tubecrush.Net lädt seit Jahresbeginn alle dazu ein, heimlich gemachte Fotos von „auffälligen“ Männern in der Tube zu senden und sie mit einer Bewertung zu versehen, so dass die Gemeinschaft von fröhlichen Spionen und Voyeuren darüber abstimmen kann. Das Archiv mit derzeit knapp 500 Aufnahmen kann nach Kategorien durchsucht werden: „Bären“, „Prolle“, „Muckis“, aber auch „gut aussehend“ und „kultiviert“. Der derzeitige Favorit der Londoner Pendler sieht wie Ricky Martin aus – ein müde aussehender junger Mann im Anzug mit gelöster Krawatte. „Oh mein Gott, ist er heiß“, kommentiert Anna. „Hinreißend“, stimmt Marita zu. Die weiblichen Jauchzer sind der Beweis dafür, dass „Tubecrush“ keineswegs nur Schwule anzieht.
Viele Einträge sind wohlwollend, doch es kann auch anders sein. „Blöder Hut“, „sitzt wie ein Hahn“, „sollte sich über seine Lektüre schämen“: Wehe, jemand hat sich in einem Moment der Schwäche vor einem Möchtegern-Paparazzo gehen lassen. Es ist typisch für England, dass dieser Einbruch in die Privatsphäre folgenlos bleibt. Die U-Bahn sei ein „öffentlicher Ort“, darum dürfe man legal Fremde fotografieren, winkt die Tube-Direktion ab. Nur drei Männer hätten bislang gebeten, ihre Bilder zu entfernen, heißt es bei „Tubecrush“. Wer soll diese Haltung der Briten verstehen? Einerseits: „My home is my castle“. Andererseits: Die ständige Bespitzelung durch Fremde oder durch den Staat ist kein Problem.
Mit bis zu sechs Millionen installierten Videokameras (englisch: CCTV), die teils auch Geräusche aufzeichnen, gehört das Inselkönigreich zu den am meisten überwachten Staaten der Welt. Wer in London seinen Geschäften nachgeht, wird am Tag durchschnittlich 300-mal gefilmt. Die elektronischen Augen schauen an jeder größeren Straßenkreuzung, in jedem Bus, in den Zügen, Läden, Behörden, vor den Pubs und in manchen Restaurants zu. Auch die englischen Lehrer spionieren gerne ihre Schüler aus. So hat die Stoke Park School in Coventry 112 CCTV-Kameras angebracht. Damit nicht genug: Die Briten kaufen gerne eigene CCTV-Anlagen, um jederzeit das Geschehen in Haus und Garten im Blick zu behalten. Manchmal auch im Nachbargarten.
„Big Brother“ hat auf der Insel ein leichtes Spiel. Die Proteste gegen die Dauerüberwachung sind leise und rar. Und wenn das Thema einmal aufkommt, werden viele Gründe gefunden, um nichts zu ändern. So wie jetzt: Eigentlich hatten die Liberaldemokraten in der Regierung von David Cameron vor, gegen die CCTV-Epidemie vorzugehen und die Privatsphäre der Bürger zu schützen. Doch seit den Krawallen in London preisen die Politiker das derzeitige Systems, weil es die Randalierer leicht überführen lasse. Der Scotland Yard und die anderen Behörden haben nach eigenen Angaben 40 000 Stunden Video von den Ausschreitungen aufgenommen. Arme Polizisten: Bestenfalls werden sie erst in zwei Jahren mit der Auswertung dieser riesigen Datenmenge fertig sein.