Wenn eine Bordellstraße zur Kunst wird: "Hoerengracht" in der National Gallery. Foto: alm"This is hot!" („Das ist heiß“) Der Mann, der mir entgegenkommt, pustet theatralisch auf seine Hand, als hätte er sich die Finger verbrannt. Im Halbdunkeln kann ich eine Reihe von niedrigen Häusern mit nackten Fenstern erkennen, aus denen schwaches rötliches Licht strömt. Rita in einer Leopardenfellhose und im glitzernden Top raucht entspannt eine Zigarette am Eingang zur Nummer 187. Eine andere Frau sitzt hinter einer Glastür: gelangweilt, träge, aufreizend. Arianne trägt nichts außer eines Slips und eines breiten Gürtels. In einem Hausfenster sehe ich Mary Ann in schwarzer Unterwäsche, vertieft in die Lektüre einer Boulevardzeitschrift. Die Uhr in ihrem Zimmer zeigt zehn vor zwei an. Die allnächtliche Rushhour der Sünde in der nassen, wollüstigen, schamlosen Hoerengracht.
Hello, Mary Ann! Nicht viel Arbeit heute?Huren, nichts als Huren, die auf die schnelle Exekution der Lust warten. Dabei befinden wir uns mitten in London. Und ich habe erst vor einer Stunde gefrühstückt. Meine Füße zertreten unschlüssig trockenes Laub vor den Freudenhäusern. Ihre Fenster sind nass vor Regen, doch es fallen keine Tropfen auf mein Gesicht. Ich winke zum Abschied der erstarrten Leslie zu, dann drehe ich mich weg von den falschen Blondinen mit den suchenden Blicken zur Tür in die andere Welt. Dort flanieren staunende und gähnende Touristen vor alten Gemälden, die rosige Engel, badende Nixen und Jesus am Kreuz zeigen. Normaler Betrieb in der ehrwürdigen National Gallery auf dem Trafalgar Square, die 185 Jahre nach ihrer Gründung mit einem kalkulierten Tabubruch etwas Außergewöhnliches bieten will.
„Die Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt“, sagte Picasso. Das wird den Besuchern der Ausstellung „Kienholz – The Hoerengracht“ (bis 21. Februar 2010) nicht schwer fallen. Die Wahrheit – das ist der florierende Fleischhandel im berühmten Rotlichtviertel von Amsterdam, der der liberalen Hafenstadt zunehmend zur Last wird. Die romantische Lüge sieht man zurzeit als „Kunst-Voyeur“ im begehbaren Modell einer holländischen Bordellstraße, die die Amerikanerin Nancy Kienholz um die Ecke vom Buckingham-Palast aufgebaut hat. Samt den wartenden Nutten aus Plastik. „Ich bin für die Prostitution“, sagt Nancy bei der Ausstellungseröffnung. Man wolle niemanden beleidigen, versichert Kurator Colin Wiggins. „Außerdem finden sie bei uns viele Darstellungen von Folter, Hinrichtungen und Vergewaltigungen, die verletzend wirken könnten. Wir regen uns nur deswegen nicht darüber auf, weil diese Bilder in goldenen Rahmen hängen“. Er hat Recht. Selbst wenn „Hoerengracht“ nicht an das Niveau von Monet und Tintoretto heranreicht: Diese Kunst ist zum Erröten gut, weil sie die Grenzen des Bekannten und Erlaubten ausweitet.
London ist ein Leckerbissen für Kultur-Gourmets, weil seine berühmten Kunst-Tempel neben dem seriösen Standardprogramm (das brillant genug ist) oft wunderbare, verrückte, exzentrische Dinge wagen. Die Hurenschau in der Nationalgalerie des Königreichs ist nur ein Beispiel dafür. Die Tate Modern am Südufer der Themse stellt zurzeit ein 13 Meter breites und 10 Meter hohes „schwarzes Loch“ aus – einen stählernen Container, in dem die Besucher in Finsternis Glücksgefühle empfinden sollen. Dieselbe Galerie ließ 2006 die Kunstfreunde in fünf gewundenen, stählernen Rutschen durch die Ausstellungsräume sausen. Die langen glänzenden Röhren symbolisierten ein „Transportmittel in der Zukunftsarchitektur“.
"Schwebende Lady" beim "Ball der Surrealisten" im V&A Museum. Foto: almBerühmt für ihre augenzwinkernde Kunst ist auch die „klassische“ Tate, die zurzeit ein „gefriergetrocknetes Kuhgehirn“ ausstellt. In der Tate hörte ich kürzlich ein Konzert des englischen Saxophonisten Tim Whitehead, der im Rahmen eines ungewöhnlichen Projekts zu Aquarellen von William Turner Musik geschrieben hatte. Es war ein unglaublicher Abend: Mitten in der Galerie spielte eine Jazz-Band unter klassischen Gemälden funkensprühende Musik, und manche Zuschauer tanzten dazu. Genau so verrückt ging es einmal im respektablen Victoria & Albert-Museum her, als sich dort Hunderte Exzentriker zu einem „Ball der Surrealisten“ versammelt hatten. Ich erinnere mich an eine „schwebende Lady“ im Nachthemd über den Sarkophagen der englischen Heiligen und an eine Frau mit aufgeklebten Perlmutt-Tränen auf einer großen Brille, die in gespielter Trauer über einem Sarg mit einem Gartenzwerg gebeugt stand.
Das Beste an solchen verrückten Veranstaltungen ist, dass sie frei zugänglich sind. Genau wie die „Hoerengracht“ in der National Gallery. Das liebe ich an London: Dass die großartigsten Museen an der Themse wie auch im übrigen Land für jedermann offen stehen. Ob Student, Penner oder Banker, niemand muss sich Gedanken über das Geld machen, weil der Staat für die fehlenden Eintrittsgebühren aufkommt. Dafür bitten jedoch die prächtigsten englischen Kathedralen die Besucher kräftig zur Kasse. Verkehrte Welt!